Ein paar unscharfe Impressionen. Denn: zu konzentrierte Schärfe beeinträchtigt die Wahrnehmung und killt die Kreativität. Deshalb!

Sehnsucht ist die schönste Sucht!      Novelle by Martin Nideröst  (2009)

Amélie war wie immer zu früh. Sie wartete aufgeregt unter der „Tanne der Sehnsucht“, wie sie gemeinsam ihren Liebesort auf der Rigi tauften. Die Sonne wärmte ihre helle Haut und ein sanfter Luftzug wehte zärtlich durch ihr lockiges Haar. Sorgfältig breitete sie die knallrote Picknick-Decke auf dem duftenden Sommerheu aus. Ihr Herz galoppierte und ihre Hände zitterten. Endlich! … ihre blauen Augen fixierten Daniel, der in 300 Meter Entfernung den Hinterausgang des Hotels verliess, in dem er als Koch arbeitete. Die kurze Zimmerstunde musste genügen. Sie rannten sich entgegen, um 20 Sekunden zu gewinnen. Sie umarmten sich leidenschaftlich und eilten zur „Tanne der Sehnsucht“, die etwas versetzt vom Wanderweg stolz da stand. Auf der weichen Decke liebten sie sich, beobachtet von einer schwarzen Krähe, die wie immer voyeuristisch auf einem Ast sass.  Die unerträgliche Sehnsucht füreinander war wieder für einen Moment gesättigt. Sie waren süchtig: Sie nach ihm – er nach ihr! 

 

Herbst 1991: Amélie und Daniel wohnen jetzt zusammen. Aber Daniels Sehnsucht hat 4 Buchstaben weniger. Aus Sehnsucht wurde Sucht. Statt Amélie täglich 15 Mal innig zu küssen, 5 Mal zu drücken und 1 Mal stürmisch zu lieben, heisst seine neue Sehnsucht Heroin. Das neue Liebesnest im Hertiquartier in Zug hat er als Zuschlupf in der Not abgestempelt. Jetzt ist die Spritze sein Liebesritual! Täglich füttert er seine Blutbahn und befriedigt so seine Sehnsucht. Auch Amélie ist süchtig, nach wie vor nach Daniel. Sie steht ihm bei, angetrieben vom Glauben, dass Sehnsucht jede andere Sucht besiegt.

 

Frühmorgens an einem Mittwoch steht Daniel nur in Unterhosen vor der Tür. Er habe sein letztes Hab und Gut verkauft, für einen Liebesakt mit der Spritze. Amélie bittet ihn herein – glücklich, ihn zu sehen. Aber: Amélie weint am Abend nach der Arbeit. Ihre Tränen nässen ein Foto mit Daniels Gesicht, das sie auf dem Küchentisch anstarrt. Er ist wieder verschwunden, aber dies nicht alleine. In eleganter Begleitung der goldenen Armbanduhr, die ihr die Gotte zur Erstkommunion schenkte und auch mit der neuen trendigen Stereoanlage, für die sie 3 Monate gespart hatte. 

 

Amélie träumt in jener Nacht – von Daniel. Am folgenden Morgen geht sie zur Post mit einem Einzahlungsschein. Bevor sie diesen durch den Postschalter reicht, streichelt sie mit dem Zeigefinger nochmals zärtlich über ihre magischen 6 Buchstaben. D.A.N.I.E.L. Sie lächelt und zahlt die längst fällige Rate des auf Daniel lautenden Kleinkredits ein. Ihre Sehnsucht wird unerträglich, jetzt muss sie handeln …

 

Im Büro meldet sie sich krank. Im Coop kauft sie sich die Zutaten für eine Bündner Gerstensuppe. Drei Stunden später fährt sie mit 5 Liter heisser Suppe und 25 Plastik-Bechern nach Zürich. Auf dem Plattspitz findet ihre warme Mahlzeit Anklang. Es bleibt noch eine Portion, aber wo verdammt noch mal bleibt Daniel? Endlich, er steht vor ihr. Er zittert und nimmt gierig die Suppe. Daniel blickt kurz hoch und sagt fröstelnd „Sorry, Amélie … gib’ mir Zeit – lass’ mir das Recht auf Sehnsucht!“ Daniel dreht sich um, wackelt davon und Amélie schiesst ein Foto, das nur Daniels Hinterkopf und seinen Rücken zeigt. Das letzte Foto!

 

1997, ein prächtiger Tag auf der Rigi, 14.07 Uhr unter der „Tanne der Sehnsucht“. Amélie sitzt auf ihrer knallroten Decke, hört Schritte und ihre Augen verlassen kurz Daniels letztes Foto. Sie erkennt im Blendlicht der Sonne einen strahlenden jungen Mann mit einem ansteckenden Lächeln. Er streckt ihr die Hand entgegen und sagt: „Amélie, danke fürs Warten. In den letzten 4 Monaten war ich 27 Mal hier oben, in der Hoffnung, Dich zu treffen. Die Sehnsucht nach Dir war stets stärker, als alles andere. Die Sehnsucht ist die schönste aller Süchte!“ Amélie greift vorsichtig nach seiner Hand und fängt an zu weinen. Plötzlich erschrickt sie, weil eine schwarze Krähe voller Freude kräht. Und sie weiss nun: Die Energie wahrer Sehnsucht besiegt jede Sucht! 

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